Es gibt Momente, die uns für immer prägen. Momente, die nicht nur im Gedächtnis bleiben, sondern im Herzen Wurzeln schlagen. Für mich war und ist einer dieser Momente das Elbehochwasser im Juni 2013. Damals konnte sich die Bundeswehr in Hamburg nicht entscheiden, ob Sie in Niedersachsen mit Reservisten unterstützen sollte. Während in den Nachrichten Bilder von überfluteten Orten entlang der Elbe zu sehen waren, während Deiche an vielen Stellen drohten zu brechen und Politiker die Situation für ihren Wahlkampf nutzten, begab ich mich auf eigene Initiative in den Landkreis Lüchow-Danneberg und fand mich dort mit hunderten anderen freiwilliger Helferinnen und Helfern in einer Sandgrube bei Dannenberg wieder. Dort, mitten im Dreck, mit Schaufeln, Säcken und bloßen Händen, spürte ich, was Zusammenhalt bedeutet.
Die Szene hinterließ einen nachhaltigen Eindruck: Überall klirrten Schaufeln, Menschen bückten und richteten sich auf, Hände griffen nach Säcken, diese wurden weitergereicht, zugebunden, auf Paletten geschichtet und Lastwagen fuhren sie gefühlt ununterbrochen ab. Transportziele waren zumeist die Helfer der Bundeswehr bei Hitzacker an der Elbe in Niedersachsen und bei der Festungsstadt Dömitz auf der anderen Seite der Elbe in Mecklenburg-Vorpommern. Es war ein endloser Kreislauf, der Stunden, ja Tage dauerte. Aber es war kein anonymes, stumpfes Arbeiten. Jeder einzelne Sandsack hatte eine Bedeutung. Jeder einzelne Sandsack war ein kleines Bollwerk gegen die ungeheure Kraft der Elbe. Und jeder, der dort stand, wusste: Ich helfe, ein Haus, ein Dorf, vielleicht sogar ein Leben zu retten.
Sorge und Entschlossenheit gleichzeitig
Natürlich war die Stimmung nicht frei von Sorge. Niemand wusste, ob die Deiche halten würden. Niemand wusste, ob die Wassermassen stärker sein würden als unsere Anstrengungen. Doch diese Sorge verwandelte sich in etwas anderes: in Entschlossenheit. Es gab keinen Platz für Resignation. Wir hatten keine Wahl außer zu handeln. Jeder Sack, der gefüllt und gestapelt wurde, war ein Ausdruck von Hoffnung.
Es war beeindruckend zu sehen, wie schnell aus Fremden eine Gemeinschaft wurde. Neben mir arbeiteten Schüler, Studenten, Rentner, Feuerwehrleute, Landwirte, Büroangestellte. Menschen, die sich nie zuvor begegnet waren, funktionierten plötzlich wie ein eingespieltes Team. Es brauchte keine langen Erklärungen, keine komplizierte Organisation. Ein kurzer Blick, ein Nicken, ein aufmunterndes Lächeln – und jeder wusste, was zu tun war.
Erschöpfung, die stolz macht
Die Arbeit war körperlich hart. Nach wenigen Stunden schmerzten Rücken und Arme, Schweiß mischte sich unter der brennenden Sonne mit Sandstaub, Hände waren wund vom ständigen Greifen und Zubinden, die Stiele der Schaufeln hinterließen Blasen und Schwielen an den Händen. Kleidung war verdreckt, die Gesichter grau vom Staub. Aber all das trat in den Hintergrund. Denn je müder man wurde, desto mehr wuchs ein anderes Gefühl: Stolz. Stolz darauf, nicht passiv zu Hause zu sitzen, sondern aktiv etwas beizutragen. Stolz, Teil einer Kette zu sein, die nicht bricht, sondern stärker wird, je länger sie hält.
Abends, wenn es dunkel wurde und die Arbeit zu Ende ging, konnte man die Müdigkeit in jedem Knochen spüren. Doch gleichzeitig lag über der Gruppe eine besondere Ruhe. Es war das Wissen, dass man nicht allein war, dass man gemeinsam gegen die Naturgewalt ankämpfte. Und dieses Gefühl trug viele am nächsten Morgen wieder zurück in die Grube.
Die stille Armee des guten Willens
Das Hochwasser von 2013 hat gezeigt, dass es in Deutschland eine stille Armee des guten Willens gibt. Menschen, die sich nicht fragen, ob jemand anderes zuständig ist, sondern die Ärmel hochkrempeln und anpacken. Menschen, die aus innerem Antrieb handeln, weil sie wissen, dass sie gebraucht werden. Es war diese Kraft, die Dannenberg, Lüchow und viele andere Orte schützte.
Bei uns in der Sandgrube war es spürbar. Während im Fernsehen von „Katastrophe“ die Rede war, herrschte vor Ort eine Atmosphäre des Anpackens. Es ging nicht um große Worte, sondern um kleine Handlungen, die in ihrer Summe Großes bewirkten. Jeder Sack war ein Stück Sicherheit, jeder Helfer ein Teil eines lebendigen, sandgefüllten Schildwalls.
Lehren für heute
Über zehn Jahre später sind die Sandsäcke längst verschwunden, viele Erinnerungen an die Fluten sind verblasst. Doch die Lehren von damals sind aktueller denn je. Denn Krisen haben sich nicht verringert – sie haben sich vervielfacht. Wir erleben Pandemien, Energieengpässe, hybride Bedrohungen, und nach wie vor Extremwetterereignisse. Was wir 2013 an der Elbe geübt haben, wird in Zukunft noch öfter gebraucht werden: Zusammenhalt, Bereitschaft, Verantwortung.
Die wichtigste Erkenntnis lautet: Resilienz beginnt nicht in Behörden oder in dicken Konzeptpapieren, sondern bei jedem Einzelnen. Sie beginnt mit der Entscheidung, nicht Zuschauer Handelnder, sondern Teil der Lösung zu sein.
Warum Engagement so wichtig ist
Helfen bei einer Katastrophe ist mehr als Sandsäcke schleppen. Es ist ein sichtbares Zeichen, dass unsere Gesellschaft funktioniert. Es zeigt, dass Solidarität nicht nur ein Wort ist, sondern gelebt werden kann. Es zeigt, dass Menschen fähig sind, über sich hinauszuwachsen.
Und dieses Engagement wird gebraucht. Ob in der Freiwilligen Feuerwehr, beim Technischen Hilfswerk, bei der Bundeswehr, beim Roten Kreuz, beim Malteser Hilfsdienst oder in unzähligen kleineren Initiativen – überall wird Unterstützung gesucht. Jeder kann etwas beitragen: körperliche Arbeit, organisatorisches Talent, technisches Wissen, soziale Fürsorge. Jede helfende Hand zählt.
Mut machen statt Angst verbreiten
Manche Menschen reagieren auf Krisen mit Angst, manche mit Zynismus, manche mit Rückzug. Doch der Einsatz in Dannenberg hat mir gezeigt, dass es auch anders geht: mit Mut, Zuversicht und Vertrauen. Es gibt nichts Aufbauenderes, als in einer scheinbar ausweglosen Lage zu erleben, wie Menschen zusammenstehen.
Genau das sollten wir uns immer wieder bewusst machen: Die nächste Krise wird kommen, aber wir können entscheiden, wie wir ihr begegnen. Mit Panik und Egoismus – oder mit Zusammenhalt und Stärke.
Zusammenhalt als Schlüssel
Wenn ich an die Sandsackbefüllung 2013 zurückdenke, sehe ich Gesichter voller Entschlossenheit. Ich höre das rhythmische Schaufeln, das Zubinden der Säcke, das Rufen der Helfer. Ich erinnere mich an müde, aber stolze Blicke. Vor allem aber erinnere ich mich an ein Gefühl, das mich nie wieder losgelassen hat: Gemeinsam können wir selbst größte Herausforderungen meistern.
Das ist die eigentliche Botschaft des Hochwassers von 2013. Nicht die Bilder der Zerstörung bleiben, sondern die Bilder der Solidarität. Nicht die Angst prägt, sondern der Mut.
Die Sandsäcke von Dannenberg sind längst zerfallen, aber die Erinnerung an die Menschen, die sie gefüllt haben, lebt weiter. Sie ist ein Beweis dafür, dass wir nicht Opfer der Umstände sind, sondern Gestalter unserer Zukunft. Jeder von uns hat die Möglichkeit, in einer Krise den Unterschied zu machen.
Darum lautet die Einladung: Engagiert Euch. Wartet nicht, bis die nächste Flut kommt. Werdet Teil der Gemeinschaft, die unser Land stark macht. Denn die nächste Herausforderung wird kommen – und wenn wir dann wieder Schulter an Schulter stehen, wird uns nichts so schnell erschüttern können.
Kurze Anmerkung zum Schluss: Damals hatten wir weder Zeit noch Muße, um Selfies zu machen. Wir mussten einfach anpacken. Deswegen muss hier zur Illustration nun ChatGPT herhalten.